Mareike Lotte Wulf

Europa den Puls fühlen – Delegationsreise nach Polen

Eine Reise zu unserem großen und direkten Nachbarn im Osten – ich habe mich bewusst für Polen entschieden – 40 Millionen Einwohner und mittlerweile eine Wirtschaftsmacht in Europa. Die Wachstumsrate liegt bei 5% und der Arbeitsmarkt brummt. Fachkräftegewinnung, Abwanderung und Migration werden uns als vordringliche Themen begegnen.

Als ehemalige Studentin der Europa-Uni Frankfurt (Oder) glaube ich, Polen zu kennen. An der Europa-Uni wurden wir im Sinne Europas und des ‚Weimarer Dreiecks‘ ausgebildet. Frankreich, Deutschland und Polen als Treiber und Garanten für ein freies und friedliches Europa. Mein Erasmusjahr verbrachte ich in Frankreich mit einer Clique von drei Polinnen. Das war noch vor der Osterweiterung. In den Zimmern meiner polnischen Kommilitoninnen hingen Europaflaggen über den Betten. Brüssel stand als Arbeitsort ganz oben auf der Wunschliste. Ich kenne Polen als ehrgeiziges, weltoffenes und pro-europäisches Land. Auf meiner Reise ins Polen des Jahres 2018 lerne ich, dass dies nur die halbe Wahrheit ist.

Als politische Delegation stehen uns vier Termine in polnischen Ministerien in Warschau bevor. Bezeichnend ist, dass zwei der vier Termine abgesagt werden. Die politische Delegation besteht aus Minister Dr. Bernd Althusmann, dem Staatssekretär für Digitalisierung Stefan Muhle, der Abgeordneten Dörte Liebetruth, einem Journalisten, dem Geschäftsführer der Unternehmerverbände Niedersachsen Volker Müller und mir. Wir warten in der Deutschen Botschaft. Ein schönes modernes Gebäude mit einem großen parkähnlichen Garten. Endlich gegen Mittag geht es ins Ministerium für Verkehr & Infrastruktur. Wir werden vom Staatssekretär empfangen, allerdings ohne Presse und Verbandsvertreter. Der Termin soll bezeichnend werden für eine neue polnische politische Elite, die vom Nationalismus und Anti-Liberalismus profitiert.

Wir kommen in einen Raum mit zwölf polnischen Flaggen, die an der linken Raumseite aufgestellt sind. Schön anzusehen, aber keine EU-Flagge? Keine Deutschlandflagge als Höflichkeitsgeste? Nur zwei kleine Wimpel auf dem Tisch weisen auf das deutsch-polnische Treffen auf Ministerebene hin. Der polnische Staatssekretär ist jung, vielleicht Mitte vierzig. Er ist Warschauer; hat in der Stadt studiert. Erst später wird klar, er trägt das Abzeichen der „polnischen Heimatarmee“ am Revers. Das ist die Organisation, die den bewaffneten Widerstand gegen die Besatzung durch Nazi-Deutschland anführte. Eine absichtliche Geste oder eine Gewohnheit? Schon der Gesprächseröffner zeigt, dies wird kein allzu freundschaftlicher Termin. Es geht um einen polnischen LKW-Fahrer, der bei Soltau ums Leben kam. Eigentlich kein Begrüßungsthema für ein Spitzentreffen. Anschließend sprechen wir über Infrastruktur, Straßenbau und Investitionen. Wir werben für unseren niedersächsischen Wasserstoffzug. Als das Thema auf die Northstream-Pipeline kommt, werden die Gesichter auf der anderen Seite des Tisches streng. Die Polen sehen die Nähe der Deutschen zu Russland in dieser Frage äußerst kritisch. Der Versuch, die Stimmung durch eine unverfängliche Frage aufzulockern, wird zum Symbol. „Was würden Sie uns, Herr Staatssekretär, empfehlen, wo können wir das wahre Warschau kennenlernen?“ Die Antwort: „Im Museum zur Erinnerung des polnischen Widerstands der Heimatarmee“. Spätestens jetzt ist klar, dass unser Gegenüber sich mehr an den deutsch-polnischen Beziehungen der Vergangenheit orientiert als an denen der Gegenwart oder der Zukunft. Wir verlassen das Ministerium mit einem unguten Gefühl. 

Dass es auch anders geht, zeigt sich im Ministerium für Digitalisierung. Hier geht es  wieder offizieller zu. Deutsche, europäische und polnische Flaggen, ein schön gedeckter Tisch – ein Rahmen der Anerkennung. Wir führen ein Gespräch und merken auch, dass sich die Verhältnisse in Deutschland und Polen angeglichen haben. Breitband ausbauen müssen wir alle. Bagger und Fachkräfte fehlen sowohl in Polen als auch in Deutschland. Na gut, es könnte schlimmer kommen. Die Konjunktur brummt in Europa – das betrifft Ost- wie Westeuropa.

Den letzten Tag der Reise verbringen wir in Posen. Unternehmensbesuche bei VW, EWE und BTC stehen auf dem Plan. Hier wird klar, dass die ganz großen Investitionen deutscher Unternehmen in den letzten fünf Jahren getätigt worden sind. EWE wächst, doch die Netze in Polen machen Sorgen. Der Anbieter ist stolz darauf, dass seine Kunden nur mit drei Minuten Stromausfall im Jahr zu rechnen haben. In anderen Netzen sind es schon mal 400 Minuten. Politisch treffen wir hier auf kommunale Vertreter des weltoffenen-proeuropäischen Polens, das ich im Studium kennengelernt habe. Dennoch, spätestens jetzt zeigt sich, wohin sich Polen insgesamt derzeit entwickelt.
Die auf nationaler Ebene regierende PIS-Partei, national-konservativ und europaskeptisch, profitiert vom wirtschaftlichen Aufschwung, der gerade durch die europäische Integration und auch durch viele Entbehrungen nach der Wende ermöglicht wurde. Die sprudelnden Steuereinnahmen nutzt die PIS für eine äußerst beliebte Familienpolitik. Für jedes Kind gibt es umgerechnet 120 Euro Kindergeld pro Monat, das sind 12 Prozent des mittleren Einkommens einer polnischen Familie. Gleichzeitig fehlen die Mittel für Investitionen in die Infrastruktur.
Die Zustimmung für Europa ist in Polen weiterhin überaus hoch. Dennoch: Ein Teil der Bevölkerung lässt sich mobilisieren durch provokante Forderungen wie die nach Reparationszahlungen. Daher ist das Gefühl, das bleibt, dass in einer bestimmten Schicht die Deutschenfeindlichkeit salonfähiger wird. Das stimmt mehr als nachdenklich. Auch in Polen gibt es eine politisch gespaltene Gesellschaft. Vielleicht sind sich Deutschland und Polen darin schon wieder sehr ähnlich. Gerade deshalb sind die polnisch-deutschen Beziehungen wichtiger denn je. Unser großer Nachbar im Osten bleibt ein wichtiger Partner.